Ein Reisebericht von Nicole Stoffel
Vorne weg muss ich sagen, dass es kaum möglich ist, die Schönheit dieser Tour in Worte zu fassen. Schöner kann sich die Schweiz nicht präsentieren, als wir es in dieser Woche erlebt haben.
Mit Gepäck für fünf Leute standen wir an der Bushaltestelle und machten uns auf den Weg nach Scuol. Das Unterengadin empfing uns mit strahlendem Sonnenschein, und wir wollten nichts wie raus in die Natur. Nach dem Check-In im Hotel machten wir uns sogleich auf den Weg. Das Ziel war Motta Naluns. Die Achtergondel brachte uns auf das gut 2’000 m.ü.M gelegene Aussichtsplateau.
Am Nachmittag schlenderten wir durch das schöne Dorf und machten einen Fotostopp auf der Gurlainabrücke. Die Brücke, die über den Inn führt, bietet einen herrlichen Blick zur Kirche.
Den Abend liessen wir im Restaurant des Hotels ausklingen. Es war Wildsaison, und ich startete nebst der Wanderwoche auch meine kulinarische Wildwoche. Wie jedes Jahr begleitete mich wieder meine ganze Familie. Mein Mann und unsere drei Kinder, meine Eltern und meine Schwester mit ihrem Freund. Da unsere Mädchen noch nicht so weite Strecken laufen können, hielten wir abends jeweils „Teamsitzung“. Wir beschlossen, wer am nächsten Tag wandert und wer für das Kinderprogramm zuständig sein wird.
Juhu, es kann losgehen! Die erste Wanderetappe führte uns von Scuol nach S-charl. Die Wetteraussichten waren gut und so wartete heute ein wunderbarer Herbsttag auf uns.
Die erste Etappe liefen wir auf dem Jakobsweg (Nr. 43) und nicht auf der Nationalpark Route, da diese mit einer Übernachtung in einer Hütte verknüpft gewesen wäre.
Da die Clemgia Schlucht geschlossen war, mussten wir zu Beginn einen kleinen Umweg machen. Der Weg führte uns hinauf bis zur Pferderanch San Jon. Bereits nach ein paar hundert Meter bergauf jammerten die Kinder und fragten, wann wir endlich da seien. Wir versprachen Ihnen gaaanz viele Pferde und hatten damit Erfolg. Ab San Jon führte uns die Strecke ziemlich lange einer Strasse entlang. Unser Mittagsziel war die Postautohaltestelle Punta da Funtanas. Dort assen wir unser Picknick. Meine Eltern liefen nach der Pause weiter und mein Mann, die Kinder und ich fuhren mit dem Postauto weiter.
Der Wanderweg führte entlang eines schroffen Flussbettes und durch schöne Wälder, stetig leicht bergauf. Wir warteten lange auf das Postauto. Als die Kinder, welche sich im Postauto die vordersten Plätze gesichert hatten, unterwegs die Grosseltern sahen und wie wild „Grossmami, Grosspapi“ riefen, fragte Chauffeur, ob er hupen soll. Als dann das Postauto auf der gleichen Höhe wie meine Eltern „Tütato, tütato“ machte, jubelten die Kinder vor Freude.
In S-charl angekommen checkten wir im Gasthaus Mayor ein, welches sehr rustikal und gemütlich ist. Das Dorf ist winzig und autofrei. Es besteht aus einer Kirche, zwei Hotels und ein paar vereinzelten Häusern.
Als meine Eltern nach ihrer Wanderung eintrafen, genehmigten wir uns im Crush Alba einen Apéro, die Kinder tobten sich auf dem Spielplatz aus und beide Parteien erzählten von ihren Erlebnissen.
Heute kamen meine Schwester Claudia und ihr Partner Marc. Als sie mich fragte, ob wir sie an der Bushaltestelle abholen, mussten wir schmunzeln. Sie war sich nicht bewusst, dass das Dorf so klein war, sodass man von Anfang bis Ende Dorf rund eine Minute benötigt… Aber selbstverständlich standen wir alle an der Haltestelle parat.
Claudia, Marc, mein Mann und ich waren heute die Wandervögel und meine Eltern hatten Kinderdienst. Ich freute mich riesig auf die erste „richtige“ Etappe. Nach dem Frühstück und mit dem Lunchpaket vom Gasthaus im Rucksack machten wir uns auf den Weg. Es war früher Morgen und nur 4 Grad. Wir waren entsprechend dick eingepackt. Aber es war klar, dass es wieder ein traumhaft sonniger Tag werden würde.
Die ersten Meter führten uns weiter ins Tal und durch eine wunderschöne, verlassene Gegend zum Pass Cruschetta hinauf. Weit und breit war niemand und wir genossen die Einsamkeit und die Stille. In den Unterlagen hiess es, dass wir die Identitätskarte dabeihaben sollten, da die Tour über die Landesgrenze geht. Als wir auf dem Pass ankamen und den Grenzstein Schweiz/Italien sahen, mussten wir lachen, als wir an unsere IDs im Rucksack dachten. Eine lustige Vorstellung, dass mitten im Nirgendwo ein Zöllner warten soll.
Nach der Passhöhe ging es steil bergab, zuerst auf engen Wanderwegen, danach wenig spektakulär im Flussdelta, auf Forststrassen und später auf Asphalt weiter. Da uns die Asphaltstrasse nicht zusagte, liefen wir durch eine Kuhweide und verpassten deshalb den Abzweiger Richtung Taufers. Wir sahen die Ortschaft Müstair, den Hauptort des Münstertales und entschieden uns, dort in einem Café ein Dessert zu bestellen. Gestärkt nahmen wir die letzte knappe Stunde in Richtung unseres heutigen Etappenzieles nach Sta. Maria unter die Füsse. Unsere dortige Unterkunft war das Crusch Alba. Ein Hotel, eingerichtet mit sehr viel Liebe zum Detail.
Heute kümmerten sich mein Vater und ich um die Kinder und verbrachten tolle Stunden im Val Müstair. Als erstes fuhren wir mit dem Postauto nach Müstair und besuchten das Kloster, welches zum UNESCO Weltkulturgut gehört. Anschliessend spazierten wir zum Schulhaus Spielplatz in Müstair, wo sich die Kinder austoben konnten.
Für das Mittagessen fuhren wir nach Tschierv, dem heutigen Wohnsitz von Langlauf Olympiasieger Dario Cologna. Die Wandertruppe hatte heute eine schöne Tour vor sich und alle freuten sich auf einen wundervollen Tag. Die Etappe führte ins abgelegene, weite Hochtal Val Mora. Die Sonne strahlte und die Herbstwälder glänzten in den schönsten Farben. Die Schönheit lässt sich kaum in Worte fassen! Ab Sta. Maria wanderten sie auf einem Feldweg bis zur Alp Mora. Von da aus ging es etwa eine halbe Stunde ziemlich steil hoch, bevor es dann über Weideland relativ flach weiterging.
Die beiden Gruppen trafen sich per Zufall gleichzeitig auf dem Ofenpass. Es bot sich uns ein fantastischer Ausblick bis zum schneebedeckten Ortler im Südtirol. Auch im Hotel auf der Passhöhe fühlten wir uns gut aufgehoben und wurden bestens bekocht.
Bislang wanderten wir immer am Rande des Nationalparks, doch die heutige Etappe führte nun mitten hindurch und wir freuten uns sehr.
Nach einem kurzen Schwatz mit unserer Gepäckfahrerin startete die ganze Gruppe gemeinsam. Wir machten uns auf von der Passhöhe runter nach Buffalora. Nach einer knappen Stunde trennten wir uns. Grossmutter und Vater blieben mit den Mädchen am Bachbett und bauten Steinmännchen.
Der Rest kam ziemlich schnell ins Schwitzen. Zu Beginn ging es steil bergauf, bis es etwas gemächlicher auf angenehmen Wanderwegen bergauf zur Nationalparkgrenze ging.
Es sei in dieser Jahreszeit nicht einfach Tiere zu beobachten, sagten unsere Hoteliers. Wir hatten unsere Feldstecher jedoch immer griffbereit. Es konnte doch nicht sein, dass wir im Nationalpark waren und kein einziges Tier zu sehen bekamen. Wir liefen über Tausende von Murmeltierlöcher, aber leider waren sie wirklich alle bereits im Winterschlaf. Das Hotel Süsom Givé auf dem Ofenpass gab uns ein grosses Lunchpaket mit auf den Weg und als wir den höchsten Punkt der heutigen Etappe erreicht hatten, gönnten wir uns ein gemütliches Picknick. Selbstverständlich am Wegrand, da das Verlassen des Weges im Nationalpark untersagt ist.
Wie auch in den letzten Tagen, gab es unterwegs keinen Handy-Empfang. Wir trafen wenige andere Wanderer und hatten somit ganz viel Ruhe und Zeit. Ich genoss es und man kam so richtig viel zum Reden, wenn man so viele Stunden am Wandern ist.
Während des Abstiegs zur Alp la Schera hatten wir einen wunderschönen Ausblick über den Lago di Livigno. Die Szenerie war fantastisch, der Nationalpark zeigte sich mit seiner Farbenpracht von der schönsten Seite.
Ab der Alp la Schera ging es tiefer in den Wald, bergab bis zum Fluss Spöl. Wir vertrauten auf die Zeitangaben auf den Beschilderungen. Bis jetzt waren wir immer etwas schneller als angegeben und wir gingen auch weiter davon aus. Leider war dem ausgerechnet heute nicht so. Die Etappe zog sich extrem in die Länge. Es war steil, wurzelig und abschüssig! Aber nichtsdestotrotz landschaftlich wunderschön und mystisch.
Die Schlucht, die wir überquerten, war unglaublich tief, und wir fragten uns, ob wir wohl jemals wieder nach unten kommen würden. Unsere Stimmung war, ehrlich gesagt, schon besser. Plötzlich sahen wir eine Brücke, eine seeehr hohe Brücke, und wir waren hoch erfreut, dass wir nicht runter in die Schlucht laufen mussten. Die Strapazen haben sich gelohnt! Der Blick von der Brücke war atemberaubend.
Für Menschen mit Höhenangst nicht der ideale Übergang. Nach der Brücke ging es noch etwa 30 Meter steil bergauf, bis wir nach 6.45 Stunden die Postautostation Vallun Chafuol erreichten, von wo wir nach Zernez fuhren. Beim Eintreffen in Zernez wurden wir von den Kindern stürmisch begrüsst. Sie hatten viel zu erzählen. Sie hatten eine Hirschkuh im Wald gesehen. Die letzten Meter bis zum Hotel Bär und Post legten wir alle gemeinsam zurück. Nach einem weiteren ausgezeichneten Wildmenue brachten wir die Kinder ins Bett.
Erneut gab es eine neue Gruppenzusammensetzung. Meine Schwester und mein Vater heckten ein tolles Kinderprogramm aus. Der Rest nahm voller Elan die letzte Etappe unter die Füsse. Wir fuhren mit dem Postauto nach Vallun Chafuol zum Startpunkt unserer Wanderung. Bis zur Überquerung der Schlucht liefen wir auf demselben Weg wie gestern. Mein Mann gehört zu den Geplagten mit Höhenangst und während wir die Aussicht genossen, lief er im Eilzugstempo über die hohe Brücke 😊.
Ab jetzt hiess es 2.5 Stunden steil bergauf bis zum höchsten Punkt der ganzen Wanderwoche, dem Murter auf 2’550 m.ü.M. Am Anfang wanderten wir durch den farbenprächtigen Wald und als wir die Waldgrenze erreichten, bot sich uns eine gewaltig schöne Aussicht über die Spöl.
Und endlich … Meine Mutter mit ihren Adleraugen entdeckte Gemsen. Sie waren zahlreich und weideten gemütlich. Ich war glücklich, dass wir doch noch Tiere in freier Wildbahn entdeckt haben!
Vom Murter aus hat man einen eindrücklichen Blick in die Cluozza Schlucht, welche unser nächstes Zwischenziel war. Der Abstieg war enorm steil. Heute waren wir sehr froh über unsere guten Wanderschuhe. Es war teilweise ziemlich rutschig und Trittsicherheit war gefragt.
Bei der Cluozza Schlucht trafen wir auf einen Nationalpark-Wächter. Wir plauderten mit ihm und dachten uns, dass das eventuell noch ein Job für uns wäre. Auf der Website des Nationalparks hiess es aber, dass alle Stellen belegt seien. Tja, dann kommen wir als Touristen wieder zurück 😊.
Der Ranger meinte, dass wir nun durch ein Gebiet kommen, wo am Morgen Hirsche gesehen wurden. Ganz aufmerksam und ruhig liefen wir weiter, und ich hatte nach jeder Kurve das Gefühl, dass dies jetzt der richtige Ort sein müsste. Leider waren sie aber bereits weitergezogen.
Die «Kindergruppe» trafen wir auf dem Dorfspielplatz von Zernez wieder. Wir stiessen mit einem Glas Weisswein auf einen weiteren grossartigen Tag an.
Die Strecken sind super ausgeschildert und eine Karte wird nicht benötigt. Ab und zu warfen wir einen Blick auf die App von Schweiz Mobil. Obwohl wir keinen Netzempfang hatten, funktionierte es einwandfrei.
Leider hiess es bereits wieder Abschied nehmen vom schönen Engadin. Noch einmal die frische Luft einatmen und ein paar Sonnenstrahlen tanken, dann ging es wieder heimwärts. Da wir von Bergen und Sonne noch nicht genug hatten, legten wir in Klosters einen Halt ein und assen auf einer Sonnenterrasse zu Mittag, bevor wir dann definitiv den Weg ins Unterland antraten.
Was gibt es Schöneres als den goldenen Herbst im traumhaften Engadin zu verbringen! Wir hatten unglaubliches Glück mit dem Wetter, alles hat wunderbar geklappt. Wir erlebten fantastische Wanderungen in einer einmalig schönen Region der Schweiz, haben super gegessen und uns unter der Herbstsonne so richtig erholt. Ich hoffe jetzt einfach, dass es nicht allzu lange dauert, bis ich wieder wandern gehen kann. Es tut sooo gut und ist sooo schön!