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Die Brücke zu St. Ursanne im schönen Jura.

Reisebericht: Jura-Route

Prolog

Unter den Radfahrern gibt es drei Archetypen. Nennen wir sie Pragmatiker, Entdecker und Zugvögel.

Für den Pragmatiker ist das Velo ein Fortbewegungsmittel, kostengünstig, flexibel, ökologisch. Man kommt überall hin und fast überall durch und für die Gesundheit tut man auch noch etwas. Praktisches win-win also!

Der Entdecker ist zwar auch mit einem Ziel unterwegs, aber der Weg ist ein Teil davon und er lässt sich entsprechend Zeit. Mit Informationen bestens ausgestattet, beseelt ihn ein gewisser Wille, sich auch nicht das kleinste Sensatiönchen auf seinem Weg entgehen zu lassen. Ob das Interesse dabei der Kultur gilt, Flora und Fauna oder ob kulinarische Wirtschaftskunde betrieben wird, bleibt dem persönlichen Geschmack überlassen.

Für den Zugvogel dagegen zählt im Grunde nur die Bewegung und der Fahrtwind ist sein eigentliches Habitat. «Gümmeler» nennt der Volksmund diese Spezies und wie echte Vögel treten auch sie manchmal in Scharen auf. Ein Ziel haben sie zwar auch, aber mehr oder weniger nur pro forma, Zeit und Leistungsfähigkeit sind nun mal nicht unendlich. Schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten werden absolut geschätzt, aber es gibt eine Hemmung, die Fahrt deswegen zu unterbrechen. Das bringt den Rhythmus durcheinander!

Mein Freund Jens und ich gehören eindeutig zur letzten Kategorie.

Reisebericht: Jura-Route

Tag 1 - Mittwoch, 12. Juli 2023

Wir treffen uns kurz nach acht Uhr im Hauptbahnhof Zürich. Es bleibt noch Zeit für einen schnellen Kaffee. In der Nacht ist ein Sturm über die Schweiz gefegt und Jens erzählt mir, dass er es fast nicht geschafft hätte. Wegen einer offenen Terrassentür hat der Regen seine halbe Stube unter Wasser gesetzt. Glücklicherweise hat er den Schaden aber noch früh genug bemerkt. Ein gelungener Auftakt!

In Basel geben wir das Gepäck ab, kaufen noch zwei Flaschen Wasser und machen uns auf den Weg. Knapp 300 Kilometer und etwa 5'500 Höhenmeter warten auf uns. Ich bin froh, dass der Sturm die Hitze der vergangenen Tage vertrieben hat. Die ersten beiden Tage werden mild, bewölkt und trocken sein – ideal zum Radfahren!

Jens' GPS-Gerät ist unser Lotse. Doch das Ding hat Mühe, den Einstieg zu finden und führt uns erst einmal in die Irre. Wie sich in den nächsten Tagen immer wieder zeigt, reagiert es ungehalten auf Abweichungen und braucht eine Ewigkeit, um den «bitte wenden!»-Modus aufzugeben und den Weg neu zu berechnen.

Ein Velofahrer steht mit zwei Rennvelos im Bahnhof in Basel.

Start in Basel, Bahnhof SBB.

Zehn Minuten später sind wir aber tatsächlich auf Kurs. Schnell verlässt die Jura-Route die belebten Verkehrswege der Innenstadt und durchquert den Siedlungsbrei rund um Basel auf angenehm ruhigen Nebenstrassen. Die Stimmung ist hervorragend, wir schwatzen und kommen zügig voran.

Bald schon wird es ländlicher und nach einem ersten kurzen Abstecher über die französische Grenze erreichen wir das solothurnische Mariastein. Das gleichnamige Benediktinerkloster (Notre Dame de la Pierre) ist nach Einsiedeln der wichtigste Wallfahrtsort der Schweiz. Liebhaber des Barock werden beim Besuch der Klosterkirche mit ihrer wunderschönen hochbarocken Orgel auf Ihre Kosten kommen.

Doch vor Erreichen des Gotteshauses wird noch kurz geflucht: Ich habe bei der Routenplanung ein Stück Naturstrasse übersehen, eine üble Schotterpiste. Die letzten gut 100 Meter im Wald sind steil und mit Fallholz vom nächtlichen Sturm übersäht. Wir müssen absteigen und schieben.

Parkplatz umgeben von Bäumen. Im Hintergrund befindet sich das Kloster Mariastein.

Das Kloster Mariastein.

Kurz darauf in Metzerlen beginnt der Aufstieg zum Challpass, dem ersten unserer Reise. Während oben die Jura-Route in den Wald auf eine Naturstrasse abbiegt, bleiben wir auf der Passstrasse und sausen hinunter nach Röschenz. Der Asphalt ist gut und die Strasse wie leer gefegt. Dann folgen wir auf etwa 20 Kilometern dem Lützeltal.

Der Talboden ist meist eng mit vereinzelten Häusern. Einmal weitet er sich und wir durchqueren Kleinlützel, ein unspektakulär idyllischer Flecken, in dem sich Fuchs und Hase wohl heute noch gute Nacht sagen. Das Örtchen ist wie Metzerlen-Mariastein eine solothurnische Enklave im Kanton Baselland.

Am Ortsende stossen wir wieder auf die Jura-Route. Gut acht Kilometer Waldstrecke haben wir umfahren und dafür einen Umweg von etwa eineinhalb Kilometern in Kauf genommen. Verkehr hat es weiterhin praktisch keinen. Mal hintereinander etwas Tempo bolzend, mal plaudernd nebeneinander fahrend fressen wir einen Kilometer nach dem anderen.

Gegen Mittag erreichen wir den Weiler La Lucelle mit seinem Seelein. Gut 45 Kilometer sind zurückgelegt, wir haben nicht gefrühstückt und langsam meldet sich der Hunger. Zeit, etwas zu essen und das Restaurant «Noirval» kommt da wie gerufen.

Ein Velofahrer ist bei einem Aussichtspunkt entlang der Jura Route.

Schöne Aussicht nach Frankreich auf dem Weg zum Challpass.

Wir sind etwas pikiert, als nach einigem Warten plötzlich der Küchenchef auf der Terrasse erscheint und uns mitteilt, er sei heute allein in der Küche und wisse nicht, wo ihm der Kopf stehe. «C'est le ton qui fait la musique», heisst es und uns kommt vor, als sei der ganze Schlamassel doch im Grunde unsere Schuld. Aber Jens spricht gut Französisch und holt ihn schnell wieder etwas herunter. Um ihm nicht unnötig Arbeit zu machen, bestellen wir auch brav das Mittagsmenu.

Das Restaurant scheint ein Familienbetrieb zu sein. Drinnen hinter dem Buffet steht als perfektes Abbild eines Stoikers der Alt-Patron. Viel zu tun hat er offensichtlich nicht und der Stress seines Sohnes scheint ihn auch nicht im Geringsten zu beeindrucken. Das Servieren des Getränkenachschubs übernimmt zwischendurch das etwas schüchterne Töchterchen des Hauses.

Schliesslich kommt das Essen. Das Ragout ist gut und nachdem Teller und Rivellaflaschen geleert und mit einem Kaffee begossen worden sind, brechen wir wieder auf. Ein kurzes Adieu in Richtung eines Baslers am Nachbartisch, dessen Velo ganz auf «Töff» macht, ein kurzer Parkplatzschwatz auf Englisch mit einem älteren Ehepaar und wir verlassen das Tal.

Radfahren macht hungrig

Leckeres Essen für hungrige Radler.

Charmoille, Fregiécourt und Cornol heissen die nächsten Dörfer, eingebettet in eine gefällige Landschaft. Nach Courtemautry beginnt die Strasse erneut zu steigen und führt uns hinauf auf den Col de la Croix, einem Übergang auf 789 Metern. Die Abfahrt nach St-Ursanne wird im Wald dann leider durch sehr viel Fallholz erschwert. Über seine berühmte historische Brücke (Radfahren verboten!) fahren wir in das Städtchen am Doubs und machen im Buchcafé «Le Vent se lève» erst mal Kaffeepause.

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert bin ich schon einmal hier gewesen, zufälligerweise während des Mittelalterfestes. Alle zwei Jahre verkleiden sich die Einwohner von St-Ursanne als Ritter, edle Burgdamen, Gaukler, Handwerker, Waschfrauen oder Mönche und Geistliche und lassen so längst vergangene Zeiten für drei Tage wieder lebendig werden. Aber heute ist das Städtchen praktisch leer und die alten Gassen sind fast wie ausgestorben.

Ein Velofahrer ist mit seinem Velo auf dem Col de la Croix 789 Meter über Meer angekommen.

Auf dem Col de la Croix.

70 Kilometer sind gefahren, doch der anstrengendste Teil steht noch aus. Nach St-Ursanne steigt die Route während zwölf Kilometern bis auf 1'000 Meter. Der Weg zieht sich hin und wir sind froh, als wir endlich oben sind. Hier im Bezirk Franches-Montagnes (Freiberge) begegnen uns neben den üblichen Kühen auch die ersten Jura-Pferde.

Es ist langsam Abend geworden und der Berufsverkehr hat eingesetzt. Aus diesem Grund entscheiden wir uns beim Weiler Les Sairains statt wie geplant der Hauptstrasse der originalen Jura-Route zu folgen. Der knapp zwei Kilometer lange Naturweg ist zwar recht schön, aber für diese Art Strasse sind unsere Velos definitiv nicht gemacht!

Noch zwei Dörfer, eine letzte Steigung und kurz nach sechs sind wir in Saignelégier, unserem ersten Etappenort. In der Gaststube des «Hôtel à la Gare» trinken ein paar Einheimische recht laut ihr Feierabendbier und Jens und ich stossen auf unseren ersten Reisetag an. Wir sind sehr zufrieden und freuen uns auf eine Dusche. Später gibt es dann Abendessen samt Absacker in einer Pizzeria ganz in Nähe. Die Hotelküche ist heute leider geschlossen und so ist nichts geworden aus dem Braten auf der Schiefertafel der Gaststube...

Ein Velofahrer steht mir seinem Velo vor einer Strasse mit einem Auto. Über die Strasse führt ein Viadukt.

Von nun an geht's bergrauf!

Tag 2 - Donnerstag, 13. Juli 2023

Viertel nach neun. Wir haben gefrühstückt, das Gepäck ist deponiert und die Velos aus der Garage geholt. Wir kaufen noch kurz Wasser und fahren los. Nach kaum zwei Kilometern sind auf einem kurzen steilen Strassenstück die ersten 50 Höhenmeter zu überwinden. Der Belag wurde kürzlich erneuert und die Oberfläche besteht aus rabenschwarzen Splitt, der unter den Reifen wegrutscht. Ein etwas mühsamer Kaltstart, aber gleich wird es wieder geruhsam. Lose verstreute Höfe und der Ort Les Breuleux ziehen an uns vorbei. Nach etwa 20 Kilometern geht es scharf nach links und der erste etwas längere Aufstieg beginnt.

250 Höhenmeter später sind wir auf dem Mont Soleil auf etwa 1200 Meter über dem Meer. Der Abschnitt von hier nach La Chaux-de-Fonds ist möglicherweise der schönste dieser Reise. Die Route führt über kleine Landstrassen, die durch die Hochebene mäandern, ohne den geringsten Autoverkehr. Eine perfekte Velostrecke in einer Landschaftsidylle der Extraklasse aus verstreuten Höfen und eingezäunten Weiden mit grasenden Kühen mit vereinzelten Baumgruppen oder Wäldchen. Also von mir aus könnte es den ganzen Tag so weitergehen!

Ein Mann ist Frühstück an einem Tisch.

(Jens kalt erwischt) Ein kurzes Frühstück...

In der Auberge de L’assesseur machen wir Pause. Das prächtige Haus mit seiner alten Gaststube ist voller mit Liebe zusammengetragener Kuriositäten. Wir sind die einzigen Gäste. Wir trinken Kaffee und essen ein Häppchen. Kaum gegessen, flattert von draussen ein Spatz in die gute Stube. Dem Wirt zufolge ist das Vögelchen ein Art Stammgast. Aber da er nichts interessantes bzw. essbares findet, ist er bald wieder weg. Wir bezahlen und machen uns ebenfalls wieder auf den Weg.

Ein paar kleine Baustellen hemmen zwischendurch die Fahrt noch ein wenig, aber am Ende erreichen wir viel zu schnell La Chaux-de-Fonds. Wir erwägen kurz einen Abstecher in die Stadt, aber wir sind noch so erfüllt von der Landschaft, die wir soeben durchquert haben, dass wir uns nur ungern daraus vertreiben lassen. Also fahren wir weiter.

Gaststube aus Holz mit mehreren Tischen und Stühlen aus Holz in der Auberge L'Assesseur. Mehrere Lampen und zwei Kuhglocken hängen an der Decke.

Die Gaststube der Auberge de l'Assesseur.

 
 
 

Aber kurz darauf taucht ein Landgasthof auf. Es ist kurz nach zwölf und als wir die Tische mit den Mittagsgästen auf dem Platz vor dem Haus sehen, wird uns klar, dass wir hier essen werden. Wir speisen gut im Restaurant du Chevreuil und ich komme hier doch noch zu einem Braten! Beim Kaffee machen wir dann die Bekanntschaft der Hausherrin, einer gesprächigen Bernerin, die offensichtlich gerne mit ihren Gästen scherzt. Gut gelaunt steigen wir wieder auf unsere Velos.

«Idylle pur» ist landschaftlich das Motto der nächsten Kilometer, bevor wir hinunter nach La Sagne im Vallé des Bonts fahren. «Wir fahren nicht in die Pizza, sondern in die Lasagne!», kalauert Jens beim Hinunterfahren. Der Scherz ist zwar naheliegend, sorgt aber für Heiterkeit, denn das Timing stimmt!

Unten im Vallée des Ponts am Fuss des Mont Racine sind wir praktisch alleine auf der Strasse. Wir radeln plaudernd nebeneinander und verpassen prompt die Abzweigung nach Les Ponts-de-Martel auf der anderen Talseite. Erst nach etwa drei Kilometern bemerken wir unseren Irrtum, gerade noch rechtzeitig, um zu traversieren und nicht auf die falsche Abfahrt ins Val de Travers zu geraten.

Ein Velofahrer fährt auf einer Landstrasse durch Wiesen mit Bäumen.

Und weiter gehts auf kleinen Landstrassen...

Kurz vor dem Talboden kommt von links ein grosser Traktor hinter einem Haus hervor und erzwingt den Vortritt. Wir bremsen ab. Der Maschine folgt ein Anhänger und wir verringern das Tempo weiter. Doch der Wagen wird länger und länger. Mittlerweile sind wir längst stehen geblieben, aber das Ding ist noch immer nicht zu Ende. Noch ein Stück und noch ein Stück und als er dann tatsächlich einmal aufhört, hat er die Länge eines Baumes!

Endlich können wir leicht genervt unseren Weg fortsetzen. Aber nicht für lange. Bald darauf endet die Strasse an der Hauptstrasse. Der Traktor will rechts einbiegen, aber mit seinem über-überlangen Anhänger nimmt er fast eine Stange mit, die zum Sonnendach eines Restaurants an der Ecke gehört. Der Fahrer stoppt abrupt. Mag er als Lenker auch keine gute Figur machen, im Schalten ist er fix, denn plötzlich schiesst der Anhänger auf uns zu! Wie Vögel stieben wir auseinander.

Auch der zweite Versuch abzubiegen scheitert kläglich! Ich habe unterdessen einen Logenplatz unter dem Sonnendach eingenommen, mit bester Sicht auf das Spektakel. Auf der Kreuzung ist jeglicher Verkehr zum Erliegen gekommen. Man ahnt das kommende Drama und starrt gebannt auf den Traktor. Ich vergesse vor lauter Neugier sogar das Fotografieren.

Statt den Platz auf der leeren Kreuzung zu nutzen und einmal richtig auszuholen, setzt der Fahrer vor und zurück, immer und immer wieder. Aber nur langsam kommt er seinem Ziel näher. Ist es, weil er uns fast überfahren hat? Auf jeden Fall erhöht ein kräftiger Schuss Schadenfreude meinen Genuss an diesem Spektakel. Etwa eineinhalb Minuten dauert das unwürdige Schauspiel – eine Ewigkeit! Dann endlich hat er es geschafft und rauscht davon. Und wie bei einem Film, der aus dem Standbild gestartet wird, setzt sich auch der Verkehr wieder in Bewegung.

Nach der unterhaltsamen Showeinlage des Traktorfahrers machen wir noch in Travers an einem Brunnen kurz Pause, dann folgen wir dem idyllischen Flüsschen Areuse bis nach Couvet. Irgendetwas triggert eine Erinnerung in mir und für einen winzigen Augenblick wähne ich mich am Canal du Midi. Die Bootsreise durch Südfrankreich gehört zu meinen liebsten Ferienerinnerungen.

In Fleurier machen wir beim schmucken Bahnhof eine Pause, trinken Kaffee und ausgiebig Wasser und rüsten uns für den nächsten Aufstieg. Der beginnt in Butt nur wenige Kilometer weiter und führt 350 Meter in die Höhe, über den Mont-de-Buttes und den Mont de la Chèvre wieder hinauf auf 1'100 Meter. Die folgende Strecke durch eine hügelige Landschaft ist ein weiterer kleiner Höhepunkt in dieser Etappe.

Häuser und Kirche in Vallorbe

Nach der ganzen Aufregung um den Traktor...

Bei L’Auberson kommen wir schliesslich auf die Strasse nach Ste-Croix. Es ist kurz vor sechs und der Feierabendverkehr beträchtlich. Nach einer letzten kleinen Anhöhe, den Col des Etrois, sausen wir hinunter nach Ste-Croix und der anschliessende leichte Aufstieg nach Les Rasses wird beflügelt durch die Aussicht auf einen Drink und eine Dusche. Vor Jahren war das Grand Hôtel des Rasses für uns einmal Ausgangspunkt einer Radtour durch den französischen Teil des Juras und ich freue mich, auf den alten noblen Kasten wiederzusehen. Auf der Terrasse mit ihrer grossartigen Sicht auf das Mittelland und den Mont Blanc genehmigen wir uns als erstes einen Drink. Man gönnt sich ja schliesslich sonst nichts...

Ein Velofahrer fährt auf einer leeren Landstrasse in Richtung einzelne Häuser. Umgeben von Wiese und Wald.

Auf leeren Landstrassen dem Etappenziel entgegen.

Tag 3 - Freitag, 14. Juli 2023

Aus einem Zmorge auf der Terrasse wird leider nichts. Jens macht auf «Gfrörli», ihm ist es zu kühl. Aber ansonsten ist das Frühstück hervorragend und um 9:15 Uhr sind wir wieder startklar. Den verkehrsträchtigen Weg über den Col des Etroits werden wir auslassen und stattdessen auf dieser Seite des Mont des Cerfs den Weg über den Weiler La Gittaz-Dessous nehmen, wo wir dann nach etwa fünf Kilometern auf dem Col de l’Aiguillon wieder auf die Jura-Route treffen.

Es ist eine gute Entscheidung, wie sich zeigt. Auf der wunderbar leeren Nebenstrasse überholt uns aber kurz nach der Ortsgrenze ein Motorroller. Zwar fahren Jens und ich nebeneinander, aber es bleibt zum Überholen eigentlich reichlich Platz. Trotzdem scheint sich der Fahrer sehr über uns zu enervieren und ruft uns unter seinem geschlossenen Helm etwas zu, das wir nicht verstehen. Irritiert schauen wir uns an. Aber man hat sich als Velofahrer auch ein wenig daran gewöhnt, manchen Verkehrsteilnehmern als Blitzableiter für Alltagsfrustrationen zu dienen.

Frühstücksbuffet im Hotel Les Rasses

Frühstück. Leider nicht auf der Terrasse...

Kurz nach La Gittaz-Dessous kommen wir an drei mächtigen Säulen für neue Windräder vorbei, die wir schon am Vortag hinter dem Mont des Cerf haben in den Himmel ragen sehen. Danach noch ein kurzes Stück durch den Wald und wir sind wieder auf der Jura-Route.

Das Pässchen des Col de l’Aiguillon ist ein Bijou mit ein, zwei Bauernhöfen, vielen Kühen und schöner Aussicht. Wie gemacht für eine erste kurze Pause! Danach gehts mehr als 600 Meter hinunter ins schmucke Baulmes an der Grenze von Jura und Mittelland. Stolze 18% beträgt das Maximalgefälle und ich bin recht froh, hier jetzt nicht hochfahren zu müssen!

Ein Blick zurück nach Ste-Croix

Ein letzter Blick zurück nach Ste-Croix.

Idyllisch geht es weiter dem Wald entlang und an der verschlafenen Bahnstation Six Fonaines vorbei. Um einem Stück Naturstrasse auszuweichen, sausen wir hinunter nach L’Aubergement. Aber die Freude über den Fahrtwind währt kurz und gleich darauf gehts zur Jura-Route wieder 100 Höhenmeter hinauf. Es ist heute deutlich wärmer als an den Vortagen und der Wiederaufstieg an der prallen Sonne ist schweisstreibend. Wieder mit der Route vereint gönnen wir uns eine kurze Fotopause, denn die Landschaft hier beim Weiler Vailloud oberhalb der Orbeebene ist eine kleine Augenweide.

Ab Lignerolle folgt die Route wieder einige Kilometer der Hauptstrasse. Aber auch hier bestätigt sich die Eindruck, dass im Jura tagsüber in Sachen Verkehr nicht sehr viel los ist und rechtzeitig bevor die A9 ihre Fahrzeuge auf diese Strasse entlässt, taucht die Route in ein Tobel ab. Gegen Mittag erreichen wir Vallorbe und machen in einer Bäckerei mit Café Mittagspause.

Ein Velofahrer steht an einer Kreuzung in einem Dorf.

In L'Abergement gehts auch gleich wieder hinauf.

Die Jura-Route zwischen Vallorbe und dem Lac du Joux beinhaltet ein längeres Stück Naturstrasse. Deshalb nehmen wir den Weg über den Mont d’Orzeires mit seinem dem gleichnamigen Tierpark. Radstreifen fehlen und obwohl die Passstrasse relativ breit ist, würde ich bei sehr starkem Verkehr vermutlich auf dem Radweg bleiben. Doch jetzt sehen wir etwa alle zwei, drei Minuten mal ein Auto.

Jetzt, am dritten Tag unserer Reise, macht sich endgültig die Vernachlässigung des Bergtrainings während der letzten zwei, drei Jahre bemerkbar. Ich habe das Gefühl, nicht so recht vorwärtszukommen und Jens fährt schon mal etwas vor. Als ich das Restaurant kurz vor der Passhöhe erreiche, ertönt anerkennendes «bravo» von der anderen Strassenseite. Ein beleibter älterer Herr, der gerade auf sein E-Bike steigt, schaut mit der Andeutung eines Applauses in meine Richtung. Ich neige dankend den Kopf und lächle etwas säuerlich, freue mich aber trotzdem über die kleine Aufmerksamkeit.

Kurvige Passstrasse Col du Mont d’Orzeires. Umgeben von Wald.

Leere Passtrasse auf den Mont d'Orzeires.

Auf dem Pass erwartet mich auf einem Zaun sitzend Jens und zehn Minuten später sind wir in Le Pont am Lac de Joux. Zwei oder drei Mal in meinem Leben war ich schon hier, immer war der See von Nebel bedeckt. Heute aber ist die Luft klar. Wir trinken ein wenig, schauen über das Wasser mit André Lasserres Pegasus-Statue und fahren weiter. Gleich darauf kreuzen wir eine Gruppe französischer Rennradfahrer. Frankreich feiert heute zum 234. Mal den Sturm auf die Bastille und auf ihren Velos flattern kleine Trikoloren. Wir rufen «Vive la France!» und die Leute lachen und johlen.

Leider lässt sich der See jetzt vorderhand nicht mehr blicken. Le Revers heisst der bewaldete Hügelzug, der uns die Sicht darauf versperrt. Erst nach einigen Kilometern verlässt die Route wieder die Landstrasse und am Seeufer erwartet uns dann die perfekte Vorstadtidylle! Die Örtchen Les Esserts de Rive, Le Rocheray und La Golisse bieten viel Grün, adrette Häuser und kleine Strände mit badenden Menschen.

On the Road

Landstrasse im Vallée de Joux.

Nachdem wir in Le Senter unseren Wasservorrat wieder ergänzt haben, beginnt in Le Brassus der letzte Aufstieg unserer Reise hinauf auf den Col du Marchairuz. Es ist sehr heiss geworden und Wärme und Bergfahren gehen für mich schlecht zusammen. Doch dann sehen wir ein handgemaltes Schild, dessen Bedeutung sich uns zwar nicht recht erschliesst, das wir aber als Hinweis auf eine «Besenbeiz» deuten. Wir biegen in das Schottersträsschen ein und halten auf zwei kleine alte Gebäude zu. Es ist einer jener ganz seltenen Momente, in denen ich Durst und Lust auf eine eiskalte Cola habe!

Doch was für eine Enttäuschung, das Etablissement entpuppt sich als Trödel- und Antiquitätengeschäft! Aber da wir ja nun schon einmal hier sind, schauen wir uns die ausgestellten Kostbarkeiten an. Das Amüsement über den teilweise kuriosen Tand macht die Enttäuschung dann tatsächlich wieder etwas wett.

Kleiner Laden

Mehr oder weniger brauchbarer Altagskram.

Jens ist wieder vorausgefahren, aber eine gute Viertelstunde später bin auch ich bei der Abzweigung, wo die Route in die Talsenke Combe des Amburnex einbiegt. Die letzten Höhenmeter dieser Reise sind damit Geschichte und auch die Hitze ist weg. Es ist angenehm mild, fast ein wenig kühl und ich fühle mich wie neu geboren. Nur wo zum Teufel steckt Jens? Ich schau mich um, aber von ihm und seinem Fahrrad ist nichts zu sehen. Auch Nachricht hat er mir keine geschickt. Hat er einfach zufahren wollen? Vermutlich. Also kräftig in die Pedalen getreten...

Die nächsten Kilometer bestehen aus Tannen und Weiden mit alten Steinmauern. Die Strasse ist gut, alle paar hundert Meter sind Viehgitter im Boden eingelassen, die sich aber problemlos überfahren lassen. Einige wenige Radfahrer kommen mir entgegen, einmal ein Auto. Aber zwei Mal muss ich mir den Weg durch eine Kuhherde auf dem Weg bahnen. Die Tiere ignorieren meine Anwesenheit, machen aber auch keine Anstalten, mir das Durchkommen zu erleichtern. Würden sie nicht kauen und die Schwänze bewegen, könnte man sie für Figuren aus dem Kabinett von Madame Tussauds halten.

Die kurvige Passstrasse führt auf den Col du Marchairuz. Die Strasse ist umgeben von Wiese und vielen Tannenbäumen.

Weiter auf dem Weg zum Coll de Marchairuz.

Schliesslich führt die Strasse in den Wald und die Abfahrt nach Nyon beginnt. Die Kurven sind eng und der Asphalt weist Beschädigungen auf, die im kleinräumigen Schattenspiel der Bäume nicht gut zu erkennen sind. Das kostet Tempo, aber trotzdem sind die ersten 500 Höhenmeter schnell vernichtet. In Bassins, wo die Jura-Route scharf rechts abbiegt, bleibe ich stehen und als wäre ich aus den Tiefen einer Trance aufgewacht, steht plötzlich die Frage wieder im Raum: Wo ist Jens?

Ich schau aufs Telefon und sehe, dass er versucht hat, mich zu erreichen. Das Gerät ist auf stumm gestellt und ich habe nichts von seinen Anrufen mitbekommen. Ich ärgere mich über mich selbst und rufe zurück. Jens ist noch oben. Offenbar hat er sich bei der Abzweigung genau im richtigen Moment mit seinem Fahrrad für ein kleines Geschäft hinter die Bäume verkrümelt. Erstklassiges Timing!

Wie ich hat auch er Durst, aber hier im Ort ist das einzige Restaurant, das ich sehen kann, geschlossen. Ich werde also weiterfahren, im nächsten Dorf etwas suchen und ihm dann Bescheid geben. Der Flecken Le Muids ein paar Kilometer weiter hat zwar einen recht idyllischen Dorfplatz mit einem grossen Brunnen, aber leider kein Lokal. Doch etwas abseits der Route an der Hauptstrasse hat es eines mit Aussenbereich direkt an der Strasse. Wahrlich nichts Aufregendes, aber ich bekomme hier eine eiskalte Cola!

Ich rufe Jens an, aber wir haben uns erneut verpasst, denn er ist schon weiter auf dem Weg nach Genolier. Ich schlürfe also erst einmal mein Glas leer und bin schon fast fertig, als er mir mitteilt, dass er sich in einem kleinen Lebensmittelgeschäft direkt an der Strasse niedergelassen hat. Ich zahle und fahre los. Wenige Minuten später bin ich ebenfalls dort. Die Ladenbesitzerin hat auf dem Trottoir etwas Grün und einige Tische aufgestellt. Es ist schon wieder recht heiss hier und ein alkoholfreies Bier kommt da wie gerufen. Ausserdem wird das Inventar meines Sportsacks um eine reizend-appetitliche Waadtländer Pastete ergänzt.

Das Ende der Reise ist nah!

Das Ende der Reise ist leider nah.

Acht Kilometer sind es noch bis Nyon. Um 17:15 kommen wir in brütender Nachmittagshitze dort an. Eigentlich war der Plan noch in einem Gartenrestaurant gediegen zu dinieren. Doch es ist zu warm und wir sind dermassen verschwitzt, dass wir nur noch nach Hause wollen. Also schlecken wir lediglich ein kühlendes Eis, holen unser Gepäck und steigen in einen total überfüllten Regionalzug nach Lausanne. Die älteren einstöckigen Waggons sind bis in die Einstiegsbereiche voller Menschen und bei den Fahrradaufhängern stapelt sich Koffer und Reisetaschen. Aber irgendwie schaffen wir es, uns mit Gepäck und Velos auch noch hineinzuquetschen. Zum Glück sind wir bald in Lausanne!

Aber die Fahrt zieht sich hin. Der Zug, schon verspätet angekommen, muss noch zwei, drei Mal auf offener Strecke warten. Unser Zeitpuffer in Lausanne schrumpft und schrumpft. Am Ende bleiben uns statt gut 20 vier Minuten, um im vollen Bahnhof das Perron zu wechseln. Zwar remple ich in der Eile auf einer Rolltreppe noch eine Dame an, aber wir schaffen es. Das Erstklasseabteil des Schnellzugs nach Zürich bietet zum Glück noch viel Platz und ist aufs angenehmste klimatisiert. Wir trinken etwas Kühles, stossen auf unsere Reise an und ich esse meine Pastete. Jens mag keine Pasteten, aber das stört mich in diesem Moment überhaupt nicht...

Ziel erreicht - nichts wie heim!

Das Gepäck geholt und schnell nach Hause.

Epilog

Drei schöne Tage auf einer überaus schönen Route! Egal wie man als Velofahrer drauf ist, ob Gemütsmorchel oder Kilometerfresser, die Jura-Route gehört zu den schöneren Strecken, die die Schweiz den Radlern zu bieten hat. Die Pässe sind zwar nicht so hoch wie in den Alpen, Angst vor Höhenmetern sollte man trotzdem nicht zu viel haben. In diesem Sinn hatte vor der Reise auch leise Bedenken wegen meiner fehlenden Trainingskilometer am Berg. Aber ich hab mich dann summa summarum einigermassen passabel geschlagen, denke ich ...

Zum Schluss noch ein grosses Dankeschön an dich Jens dafür, dass Du mich begleitet hast! Wir hatten eine gute Zeit und ich hoffe auf baldige Wiederholung. Von den Jurahöhen gilt es jetzt aber erst einmal Abschied zu nehmen. Doch um Paulchen Panther (den rosaroten) aus der Trickfilmserie zu zitieren (nur in der deutschen Synchronfassung): Heut ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage!

Blick aus dem Zug auf den Genfersee

Ein leicht melancholischer letzter Blick auf den Genfersee.

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