Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch
Abwesend: Donnerstag, Freitag
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Unterwegs im Land von Marjellchen und Lorbass
Eine ganze Weile schon waren die Masuren in Polen auf meiner Wunschliste für die nächste Studienreise. Corona und später der Krieg Ukraine / Russland haben mich die Tour mehrmals aufschieben lassen. Mein Mann Roger und ich gingen mit etwas gemischten Gefühlen auf die Reise, da der nördlichste Punkt unserer Tour nur ca. 30 Kilometer vom russischen Kaliningrad entfernt liegt. Es war jedoch gar nichts zu spüren von den Kriegshandlungen ganz in der Nähe. Wir lernten eine äusserst gastfreundliche und aufgeschlossene Bevölkerung kennen. Die Sprachbarriere hat unser Reiseleiter Pawel als Simultanübersetzer für uns geknackt.
Eigentlich hatten wir eine individuelle Reise gebucht. An unserem Startdatum waren aber auch Gäste dabei, welche die geführte Tour machten. Das Briefing hatten wir gemeinsam, ebenso den dreistündigen Transfer von Warschau in die Masuren. Da wir uns von Anfang an alle bestens verstanden, und da uns Reiseleiter Pawel einlud, uns der Gruppe anzuschliessen, haben wir dies gerne angenommen. Diese Entscheidung war richtig. Wir hatten als Gruppe sehr viel Spass, und dank Pawel bekamen wir viel Wissenswertes, Erstaunliches, Geschichtliches, Lustiges und Kirchliches mit…
Wer kennt sie schon, diese lebendige Stadt mit knapp 2 Millionen Einwohnern? Auch wir hatten uns die Hauptstadt Polens gar nicht so richtig vorstellen können. Ist sie wohl noch sehr östlich geprägt oder doch eher modern? Eher verschlafen oder voller Menschen?
Warschau ist geprägt von der sehr wechselhaften Vergangenheit. Von jeder Epoche gibt es markante Bauten als Zeitzeugen. Ganz wichtig für die Stadt ist der verehrte Komponist Frédéric Chopin.
Er lebte lange Zeit in Frankreich und wegen einer Gesetzesänderung in Polen durfte er später nicht mehr in seine Heimat einreisen und starb in Frankreich. Wunderschön ist die Altstadt. Es blieb von ihr nach den verheerenden Schäden des 2. Weltkriegs fast nichts übrig.
Der Wiederaufbau hat sich stark auf alte Stadtansichten eines italienischen Malers abgestützt. Toll fanden wir die riesigen Pärke, die zum Radfahren und Verweilen einladen. Neben Wohnblöcken aus sozialistischer Zeit weisen die neueren Gebäude eine deutlich westliche Architektur auf. Was Einkaufsmöglichkeiten betrifft, so fehlt es an nichts.
Auf einer sehr informativen Führung durch verschiedene Stadtteile erfuhren wir Interessantes aus Vergangenheit und Gegenwart. Die Altstadt und die grossen Pärke hatten es uns besonders angetan.
Etwas verwirrlich schien es uns, dass der Stadtteil am rechten Weichselufer Praha, also Prag heisst. Für die Radfahrer ist in Warschau gut gesorgt. Die Strassen sind breit und haben meist Radstreifen mit eigenen Ampeln. Einladende Cafés säumen die Strassen.
Der zweite Teil des Tages führte uns per Bus in ca. drei Stunden in das Gebiet der Masuren. Vor dem 2. Weltkrieg hiess es Ostpreussen. Unser Reiseleiter Pawel erwähnte eher beiläufig, dass er evangelischer Pfarrer sei, und da wir am Pfingstsonntag reisten, trug er ein äusserst lustiges, nicht ganz ernst gemeintes Touristengebiet vor.
Wir versuchten, uns auf unser Reiseziel einzustimmen. Die Informationen von Pawel, inklusive ein paar Worten in Polnisch, halfen uns dabei. Die Vegetation ist genau gleich wie in der Schweiz. Alles ist grün, aber die landwirtschaftlich genutzten Flächen sind um ein Vielfaches grösser. Auch fielen uns die vielen Storchennester auf. Störche sind überall anzutreffen und nicht sehr scheu.
Wir erreichten schliesslich den kleinen Ort Pierslawek, wo die Fahrräder auf uns warteten. Alle standen in Reih und Glied mit Seitentasche ausgerüstet, und der Gepäckfahrer und Velomechaniker, Jarek, half allen beim Einstellen. Die erste Einfahrrunde bis zu unserem Hotel in Krutyn war nur ca. 15 Kilometer lang. Ich musste mich etwas an die Rücktrittbremse meines Elektrovelos gewöhnen. Das Hotel Syrenka liegt wunderschön am Fluss Krutyna und die Küche mit polnischen Gerichten ist ausgezeichnet. Mir schmeckten die Pierogi (Teigtaschen) und die gut gewürzten Suppen besonders gut.
Um die App des Eurotrek-Partners vor Ort, das Kartenmaterial und das Routenbuch zu testen, fuhren wir schon vor der Gruppe los. Wir machten erste Bekanntschaft mit der Weite der Masuren. Viel Wald, löchrige und bessere Asphaltstrassen, kleine Nebenstrassen, zum Teil Sandwege, sehr wenige Menschen und überhaupt keine Schilder! Wir begriffen, dass wir in Polen vergeblich nach einer Signalisation im Stil von Schweiz Mobil suchten.
Ein eigentliches Radweg-Netz mit beschilderten Routen ist erst am Entstehen. Als die App im dichten Wald schon bald kein Signal mehr hatte, und Roger beichtete, dass der Routenbeschrieb im Hotelzimmer lag, verschlechterte sich unsere Laune für kurze Zeit. Sie wurde sofort besser, als wir Stimmen und Klingeln von Veloglocken hinter uns hörten: Unsere Gruppe! Und so wurde ab diesem Tag unsere individuelle Tour zu einer geführten Gruppenreise.
Unser lokaler Partner achtet nicht darauf, die Gruppen nach Elektrovelos und Antriebslosen zu trennen. Ich fand das anfänglich sehr heikel. Aber die Teilnehmenden ohne Motor waren enorm stark und konnten problemlos mithalten. Niemals wurde über das Tempo oder Steigungen geklagt – Respekt!
Da das vorgesehene Restaurant für den Mittagshalt geschlossen war, fiel dieser aus. Pawel kannte zum Glück ein sehr lauschiges Restaurant mit Terrasse in der Umgebung, wo wir uns stärken konnten. Im Haus befand sich ausserdem ein interessantes kleines Museum über das Leben und Werken der «Zeit-Journalistin» Gräfin Marion von Dönhoff.
Sie wuchs in den Masuren (ehemals Ostpreussen) auf und floh im Januar 1945 spektakulär mit Ihrem Trakehnerpferd in ca. sieben Wochen nach Westdeutschland. Ihre Bücher über diese Flucht und ihre verlorene Heimat, etwa « Namen, die keiner mehr nennt» und «Kindheit in Ostpreussen», wurden sehr bekannt.
Lauschige Kanufahrt und Begegnung mit Marjellchen und Lorbass
Schon als wir den Fluss Krutyna zum ersten Mal sahen, wussten wir, dass die Kanufahrt auf diesem ruhigen, naturbelassenen Fluss ein Highlight werden würde. Direkt beim Hotel am Fluss warteten die Boote für unsere Paddeltour auf uns. Wir fuhren ca. 3 km von Krutyn bis nach Rosocha.
Pawel führte uns kurz in die Paddeltechnik ein und wir hatten sogar Schwimmwesten dabei, aber es war allen klar, dass bei so niedrigem Wasserstand keine Gefahr bestand. Man hätte jederzeit aussteigen und durch den Fluss waten können.
Dennoch war unsere Freude riesig, in der Stille und Frische des Morgens lautlos mit den Kanus durch die wunderschöne Natur zu gleiten. Viele Wasservögel und Schwäne begleiteten uns. Ich hätte gerne den ganzen Weg bis Zelwagi per Kanu zurückgelegt.
Nach rund zwei Stunden war die Idylle leider zu Ende und wir wurden zurück zum Hotel und zu unseren Rädern gebracht für die Weiterfahrt an unser Etappenziel Zelwagi. Wir hatten rund 50 Kilometer vor uns. Was den Untergrund betrifft, so bot sich heute ein etwas anderes Bild: Fast nur Schotterstrassen und zum Teil Sandwege. Letztere stiessen bei der Gruppe und bei mir auf sehr wenig Begeisterung. Besonders die schweren Elektrovelos «schwammen» im losen Sand unkontrolliert umher.
Erste Stürze passierten. Mir entlockte der schwierige Boden wüstes Fluchen. Konzentration war angesagt. Pfarrer und Reiseleiter Pawel tat sein Möglichstes, um die Sandwege zu vermeiden, aber je nach Regen oder eben Trockenheit ändert sich die Beschaffenheit der «Piste» sehr schnell. Er hatte ein super Rezept gegen unseren Missmut: Er liess uns irgendwo am Wegrand in der Natur eine Pause machen und uns hinsetzen. Er kramte verschiedene kleine Büchlein hervor und las uns kurze, witzige masurische Geschichten vor.
So machten wir zum ersten Mal Bekanntschaft mit Marjellchen und Lorbass, welche in den Masuren etwa so bekannt sind wie Heidi und der Geissenpeter. Marjellchen ist in Polnisch der Begriff für ein Mädchen. Lorbass ist eher ein Schimpfwort (allerdings mit freundlichem Unterton) für einen masurischen Jungen.
Es gibt hübsche Gedichte über die Marjell. Pawels Geschichte vom Paradies liess uns alle Mühen vergessen und der mitgebrachte, flüssige «kleine Feigling», ein Fruchtlikör den eine Teilnehmerin allen anbot, brachte uns zurück in Hochform.
In Nikolaiken, einer der wenigen Städte in Ostpreussen, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurden, fuhren wir beim Jachthafen vorbei. Dort tummelten sich viele Leute auf der Promenade und sassen gemütlich in den einladenden Strassencafés.
Auf dieser Etappe fiel uns auf, dass die Polen eine gute Hand für schöne Gärten und Pärke haben. Überhaupt entdeckten wir auf der heutigen, dichter besiedelten Strecke viele hübsche neue Häuser, die so gar nichts mehr hatten vom grauen Sowjetstil – gut so.
Unser Hotel in Zelwagi lag idyllisch direkt an einem See. Der bilderbuchhafte Sonnenuntergang nach dem leckeren Abendessen war ein würdiger Abschluss dieses schönen Tages.
Ein paar Umwege und ein romantischer Sonnenuntergang
Heute sollten wir zum Hafen von Nikolaiken fahren, um dort mit den Velos die Fähre nach Ryn zu nehmen. Pawel erklärte uns, dass seit kurzem eine neue Route genutzt werde für die Fahrt zum Hafen. Er selber hatte die App seines Arbeitgebers nicht installiert, und so bat er uns um etwas Mithilfe beim Navigieren mit der Karte, was gründlich misslang. Ein Wegweiser machte uns klar, dass wir in die falsche Richtung fuhren und umkehren mussten.
Ich war zum zweiten Mal erstaunt, wie locker und souverän die Gruppe reagierte und ohne Murren die Abfahrt von vorhin als längere Steigung nochmals abbekam. Unser reserviertes Schiff wäre eigentlich bereits weg gewesen, aber Pawel konnte die Crew bewegen, auf die Gruppe zu warten.
Die 1 ½-stündige Fahrt auf dem See bei sonnigem Wetter war sehr entspannend. Ryn heisst auf Deutsch übrigens Rhein. Dieser kommt hier nicht vorbei. Vermutlich ist der Name eher von Rheinem Wasser abgeleitet. Auf der masurischen Seenplatte gibt es rund 2700 Seen. Es ist das grösste Süsswasserreservoir Polens.
Nach dem Mittagessen folgte die Rückfahrt nach Zelwagi. Um starken Verkehr zu vermeiden, nahm Pawel einige Umwege in Kauf. Wiederum waren einige Sandwege zu meistern und auch diesmal hielt uns eine heitere Geschichte der Masuren bei Laune. Marjellchen und Lorbass, sowie die vielen Pastorenwitze brachten uns immer wieder zum Lachen.
Nach dem Nachtessen wurde im grossen Garten des Hotels direkt am See ein Lagerfeuer gemacht, und ein Akkordeonspieler spielte und sang wunderschöne Volkslieder aus der Gegend. Wiederum machten das gute Wetter und der eindrückliche Sonnenuntergang diesen Abend unvergesslich. Die Würstchen, die wir am Feuer bräteln konnten, schmeckten wunderbar.
Trotz der Idylle am Lagerfeuer musste ich ab und zu an den Krieg denken, der so nah von uns in vollem Gang war. Es wäre jammerschade, wenn diese Gegend vermint und somit unzugänglich gemacht würde, und diese freundlichen Menschen hier mit hineingezogen würden.
Buntes Keramikgeschirr und ein privates Orgelkonzert unseres Guides
Der erste Teil des Tages führte uns wieder Richtung Ryn nach Sadry, wo wir ein masurisches Museum besichtigen konnten und dort auch Kaffee und Kuchen bekamen. Im Museum empfing uns Waldemar, der fliessend deutsch sprach und fast noch mehr Geschichten und Witze kannte als unser Reiseleiter. Alte Geräte für Haushalt und Landwirtschaft sind dort ausgestellt.
Den älteren Teilnehmern unter uns waren viele Gegenstände noch gut bekannt, und Kindheits-Erinnerungen wurden wach. Nach der Stärkung folgte wieder eine sehr sandige Strecke, bei der auch ich eine «Bodenprobe» nehmen musste: Bei einem grossen Stein brachte mich der Ruck des Rücktritts zu Fall. Passiert ist nichts (auch dem Velo nicht), ärgerlich war es trotzdem.
Ein richtiges Mittagessen gab es heute nicht, da am Nachmittag in Nakomiady noch der Besuch einer Keramikmanufaktur geplant war. Fleissige Frauen polierten eifrig Porzellan und blickten etwas verlegen auf die Besuchergruppe.
Gleich nebenan lag eine riesige Gartenanlage mit Herrenhaus. Der Besitzer, der übrigens 3 Schweizer Wachhunde hält, erlaubte uns einen Blick in das alte Haus, das früher eine Kolchose war (landwirtschaftlicher Grossbetrieb, als Genossenschaft organisiert). Die Villa hat uns aber nicht restlos begeistern können, denn im Eingang roch es unverkennbar nach Hundeurin.
Weiter ging die Fahrt Richtung Ketrzyn, deutsch Rastenburg. Fast alle masurischen Städte hatten vor dem 2. Weltkrieg deutsche Namen. Der Ort hat heute ca. 35'000 Einwohner, eine stattliche Burg und liegt am Fluss Guber. Für uns aber viel wichtiger: Pawel wohnt und arbeitet in Ketrzyn als evangelischer Pfarrer.
Die heutige Route führte nicht den Seen entlang, dafür fuhren wir über Land, umgeben von viel Grün. Die Asphaltstrassen hatten sehr viele Löcher und verlangten uns wiederum Konzentration ab.
Das Highlight dieses Tages war zweifellos der Abendspaziergang mit Pawel in der Stadt. Natürlich wollte er uns «seine» Kirche zeigen. Sie ist winzig klein und steht direkt neben einer riesigen katholischen Basilika.
Wir durften im Vorhof sogar die kleine Glocke läuten, und als sich Pawel kurz an die Orgel setzte, war dies ein ganz spezieller und besonderer Moment. Wer erlebt schon ein Orgelkonzert nachts um 22 Uhr in einer Kirche?
Nach der Wolfsschanze eine fröhliche polnische Hochzeit und ein Kaffeekränzchen im Pfarrhaus
Das kalte und regnerische Wetter passte gut zur heutigen Besichtigung der Wolfsschanze. Dies ist der Name von Hitlers Hauptquartier im 2. Weltkrieg in Ostpreussen und gibt Einblick in die schreckliche Geschichte jener Zeit. Die ersten Gebäude entstanden 1941, dann wurde die Anlage laufend erweitert und verstärkt. Die Wände waren bis 7 Meter dick, die Decken bis 8 Meter. Man stelle sich vor, welche Mengen an Beton dort verbaut wurden.
Teilweise befanden sich bis 2000 Menschen auf dem Gelände. Dank raffinierter Tarnung mit Netzen, welche wie Laub aussahen, war das riesige Areal aus der Luft nicht sichtbar. 1944 verübte Claus Schenk, Graf von Stauffenberg einen Sprengstoffanschlag auf den Führer, der leider misslang. Hitler überlebte leicht verletzt, der Attentäter wurde sofort hingerichtet. Nach dem Krieg wurde die ganze Anlage in die Luft gesprengt. Heute sind noch Teile der Betonblöcke mit Armierungseisen sichtbar. Der Anblick wirkt gespenstisch.
Wir gingen alle mit ernsten Mienen durch die Anlage. Die fröhliche Stimmung war wie weggeblasen. Aber man soll die Augen nicht verschliessen vor der Geschichte. Interessant und empfehlenswert war die Führung auf jeden Fall, auch wenn es keine leichte Kost ist.
Draussen wartete Pawel auf uns, was die Stimmung bei allen gleich wieder aufhellte. Wir verliessen diesen Ort gerne und radelten auf holprigen Asphaltstrassen weiter Richtung Steinort. Eine offene Kirchentüre am Wegrand und ein festlich geschmücktes Auto zogen Pawels Neugier auf sich. Er stoppte, und schon waren wir quasi Zaungäste einer polnischen Hochzeit. Wir läuteten unsere Veloglocken und wurden sofort mit Süssigkeiten beschenkt.
Pawel kam mit seinem katholischen Kollegen schnell ins Gespräch und dieser lud uns nach der Abfahrt des Brautpaars in die Kirche ein. Wir besichtigten das Hauptschiff und einen alten Holzturm neben der Kirche, der in seinem Inneren eine Art Galerie mit alten christlichen Bildern beherbergte. Pfarrer Adam erzählte, dass bei Hausräumungen diese Bilder in der Kirche abgegeben werden können, falls sie niemand mehr will. Fremde Länder, fremde Sitten.
Wir wollten eben die Räder wieder besteigen und weiterfahren, als Pawel rief: «Kommt rein, wir besichtigen noch das Pfarrhaus!» Wir hielten das anfänglich für einen Witz, aber der junge Pfarrer hatte grad eine Pause, nichts Wichtiges zu tun, und unsere Gesellschaft schien ihm angenehm zu sein, obwohl der Dialog mit uns unmöglich war. Pawel legte sich als Dolmetscher einmal mehr ins Zeug.
Innert kurzer Zeit standen 18 Kaffeetassen auf dem grossen, ovalen Tisch, alle verfügbaren Stühle wurden herbeigeholt, und die spendierten Toffifee-Schöggeli setzten der Kaffeerunde inmitten von vielen grossen Kerzen, Kreuzen und Engelsfiguren die absolute Krone auf. Ein wahrhaft himmlischer Nachmittag! Wir waren von der sprichwörtlichen polnischen Gastfreundschaft alle tief beeindruckt.
Der nächste Halt war beim zerfallenen Palast des einstigen Grafen von Lehndorff. Der Herr des Hauses, Heinrich von Lehndorff, war ein Verbindungsmann in der Planung des Attentats auf Hitler in der Wolfsschanze. Er hatte sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus angeschlossen, nachdem er Zeuge des Mordes an Juden geworden war.
Als nach dem Bombenangriff die SS im Schloss Lehndorff eintraf, konnte der Graf zu Fuss fliehen, wurde aber bald darauf gefasst und hingerichtet. Es bestehen Pläne, das Schloss zu renovieren, aber es fehlen die Mittel dazu und man ist sich uneinig über den Besitzstand.
Nochmals eine sehr traurige Geschichte an diesem Tag. Ich fand es passend, dass es plötzlich richtig kalt wurde und zu regnen begann. Und so fuhren wir mit Regenkleidern ausgestattet noch etwa eine halbe Stunde bis zum Parkplatz, wo uns der Transferbus mitsamt den Velos erwartete und nach Mragowo, deutsch Sensburg, brachte. Es sollte die Einzige leicht verregnete Strecke der ganzen Reise sein.
Eindrückliche 3000 Orgelpfeifen und schon wieder mitten in einem Fest
Schon stand die letzte, dafür mit rund 70 km längste Tagesetappe an. Durch eine liebliche, hügelige Landschaft mit viel Grün fuhren wir zur berühmten Kirche «Swieta Lipka», heilige Linde. Das Dorf, wo die Kirche steht, trägt denselben Namen: Heiligelinde. Heute ist die barocke Klosteranlage Wallfahrtsort für Einheimische und Touristen aus aller Welt Eine Sage berichtet von einem in Rastenburg zum Tode Verurteilten, der Maria um Hilfe anflehte. Sie trug ihm auf, eine aus Holz geschnitzte Figur von ihr anzufertigen.
Er wurde freigelassen und hängte die Figur an eine Linde auf dem Weg nach Rößel. Fortan ereigneten sich dort viele Wunder. So soll die prächtige Kirche zu ihrem Namen gekommen sein. Es ist schon das dritte Gotteshaus, das an dieser Stelle gebaut wurde. Besonders bekannt ist die riesige Orgel aus dem 18. Jahrhundert mit rund 3000 Pfeifen und 40 Registern. Die auf der Orgel angebrachten Figuren bewegen sich beim Spiel.
Wir durften eine Viertelstunde zuhören, dann war schon die nächste Gruppe dran. Eine Reiseführerin gab uns danach noch viel Interessantes über die ganze Klosteranlage weiter. Einige Malereien in den Kreuzgängen geben optische Täuschungen ab. Ohne Hinweis wären diese für uns kaum sichtbar gewesen.
Nächster Halt mit Kaffeepause war in der hübschen Stadt Reszel, Deutsch Rössel. Vom Turm der mächtigen Sankt Peter und Paul Kirche hat man einen prächtigen Blick über den mittelalterlichen Stadtkern und die stolze Burg, welche zuletzt als Gefängnis diente. Die Gegend um die Stadt gehört zum Bezirk Ermland Masuren.
Kurz vor dem Tagesziel Mragowo kannte Pawel noch eine besondere Kirche, die er uns unbedingt zeigen wollte. Es war im Ort gerade ein Dorffest im Gang mit Verpflegungsständen und traditioneller Musik mit Volkstanz, live vorgetragen. Da durften wir nicht einfach vorbeifahren, keine Frage. Bevor alle ihre Velos abgestellt hatten, rief uns Pawel mit vollem Mund zu: «Wurst 5 Zloty, den Kuchen gibts umsonst». Und so waren wir einmal mehr mittendrin im Geschehen ohne zu wissen, was eigentlich gefeiert wurde (600 Jahr-Feier).
Verdutzte Festbesucher fragten uns, ob wir denn von so weit her mit den Velos extra wegen ihres Festes gekommen seien? Interessante Gespräche mit Händen und Füssen und einigen englischen Brocken entstanden, und Pawel übersetzte, wo er konnte.
So fuhren wir schliesslich rundum zufrieden, mit vielen neuen Eindrücken und gesättigt zurück in unser Hotel in Mragowo. Dort feierten wir unseren Abschiedsabend mit feinem Essen, süffigem Bärenfang-Honigschnaps und ganz viel Melancholie und stiessen auf die unvergessliche Reise und natürlich auf Marjellchen und Lorbass an.
Und Verlängerung in der Hafenstadt Danzig
Früh morgens verliessen wir das Hotel Eva und wurden im Bus zurück nach Warschau gefahren. Dort trennten wir uns in sehr verschiedene Richtungen. Ich bin mir sicher, dass die erlebnisreiche Reise allen in bester Erinnerung bleibt und immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zaubert.
Wir fuhren mit dem Zug in drei Stunden nach Danzig zu unserer Verlängerung. Die Zugverbindung hat bestens funktioniert, und diese Hafenstadt an der Ostseeküste Polens mit ihren alten Kranen, den vielen Kanälen, Brauereien und Bernsteingeschäften ist ein wahrer Geheimtipp.
Eine sehr empfehlenswerte Reise, von unserem Partner in Polen bestens organisiert und betreut. Man darf in Polen keine für uns exotischen Landschaften erwarten. Die Flora und Fauna entspricht der unseren, aber die Flächen an unüberbautem Land sind viel grösser. Immer wieder führt der Weg an kleinen bis riesigen Seen vorbei. Da die Signalisation für Radfahrer und ein Radwegnetz erst am Entstehen und zurzeit noch dürftig sind, empfehle ich, die App des Partners und die Karte zu nutzen.
Die Orientierung ist relativ schwierig und die Beschilderung knapp. Ich kann die geführte Reise, statt der Tour auf eigene Faust nur empfehlen. So findet man (meistens) den Weg sehr leicht, und die Informationen des Reiseleiters bereichern das Erlebnis enorm. Mai/Juni ist eine ideale Reisezeit, mit milden, vorsommerlichen Temperaturen.
Die Leihräder sind als Trekking Bikes mit 7 oder 21 Gängen (Damen- und Herrenmodelle) oder als Elektrovelos zu mieten. Einige Elektrovelos haben Rücktrittbremsen! Die Strecke ist relativ hügelig und teilweise gibt es Sandwege. Eine gute Kondition ist erforderlich oder man mietet ein Elektrovelo.
Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch
Abwesend: Donnerstag, Freitag
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